Das Archiv für Sozialgeschichte
erscheint jährlich und kann im Abonnement bezogen werden.
erscheint jährlich und kann im Abonnement bezogen werden.
Menschen waren zu allen historischen Zeiten mobil, ob aus eigenem Antrieb oder aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Notlagen. Migrationsbewegungen verknüpfen entlegene Regionen durch Reiserouten und Kommunikationsnetze, sie prägen Bahnhöfe, (Flug-)Häfen und ganze Stadtviertel als Räume des Ankommens und Zusammenlebens. Nationalstaaten sind zwar bemüht, Migration zu steuern, sie können die eigensinnige Suche nach neuen Lebensmittelpunkten und Erwerbsquellen aber nicht in Gänze kontrollieren.
In aktuellen Diskussionen wird Rechtsextremismus häufig als etwas außerhalb der Gesellschaft Stehendes verstanden. Dagegen zeigen Stimmgewinne rechtsextremer, nationalistischer Parteien in Deutschland und Europa ein anderes Bild. Diese Bewegungen lediglich als »Betriebsunfälle« zu interpretieren, verkennt die historischen Kontinuitäten in rechtsextremen Milieus ebenso wie soziale Brüche und ideologische Neuausrichtungen.
»Bildung« ist ein zentraler und schillernder Begriff der Gegenwart. Mit ihr werden hohe Ziele von gesellschaftlicher Emanzipation verknüpft und sie soll entscheidend dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu beseitigen. Zugleich stellt sie eine wichtige ökonomische Ressource dar und schafft selbst soziale Unterschiede zwischen »Gebildeten« und »Bildungsfernen«. Bildung kann als Motor individueller Befreiung und Erfüllung erfahren, aber als stetige Aufforderung zum »lebenslangen Lernen« auch mit Auslese, Leistungsdruck und Situationen des Scheiterns in Verbindung gebracht werden.
Als Profiteure der Globalisierung sind Eliten in Verruf geraten. Die Machthabenden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und die »Superreichen« werden als abgehobene Akteure wahrgenommen, die den Kontakt zur Bevölkerung verloren hätten. In der Geschichte hatten sie aber lange auch ein positives Image. Ihnen wurden unverzichtbare Qualifikationen, Fähigkeiten zur Führung und ein hohes Leistungsvermögen zugeschrieben.
Nicht erst seit der Corona-Krise ist Solidarität in aller Munde. Mit dem Begriff werden geteilte Werte und Interessen, die Unterstützung von Anderen und soziale Forderungen zum Ausdruck gebracht. Solidarität wird mit Gegenseitigkeit und Zusammenhalt, Loyalität und Selbstlosigkeit verbunden. Ihre Gültigkeit ist jedoch von Aushandlungen und Konflikten darüber verbunden, wer in das solidarische Handeln einbezogen wird und welche Personen ausgeschlossen bleiben. In der Geschichte von Arbeitskämpfen und Protestbewegungen, bei den Sozialversicherungen, in interna-tionalen Kampagnen oder gemeinschaftlichen Projekten wird Solidarität erlebt und eingefordert, aber auch unsolidarisches Verhalten angeprangert.
»Lokomotiven der Geschichte« hat sie Karl Marx genannt: Revolutionen beflügeln Phantasien, den Traum von einer »besseren Welt«, die Hoffnung auf ein anderes Morgen. Was aber sind Revolutionen aus sozialgeschichtlicher Perspektive? Sind sie immer gewaltsam und ungeplant? Können sie trotzdem ein »Mehr« an Freiheit oder »Emanzipation« bewirken? Gibt es revolutionäre Verlaufsmuster, prägende Akteure, dominante Erzählungen, Mythen und Inszenierungen? Hat der Begriff angesichts einer inflationären Verwendung in der Populärkultur überhaupt analytische Qualität? Diese und weitere Fragen rückt das Archiv für Sozialgeschichte in diesem Jahr ins Zentrum.
Wir erleben aktuell in Westeuropa eine nachlassende Akzeptanz parlamentarisch-demokratischer Systeme. Rechtspopulistische Parteien und Positionen erweisen sich als eine große Herausforderung. Diese Situation legt eine historische Reflexion über das Entstehen, Gelingen und Scheitern politischer Partizipation nahe. Um zu verstehen, wie sich der lange Übergang von der ständischen Repräsentation in der Vormoderne zu den inklusiven Verfassungsordnungen der Gegenwart vollzog, greift eine bloße Analyse der formalen Abläufe demokratischer Politik zu kurz. Schließlich waren Definitionen und Bewertungen von demokratischen Praktiken stets umkämpft und wandelten sich insbesondere in Umbruchsphasen und Krisensituationen oft grundlegend.
Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten zwei Jahrhunderte sind nicht zu übersehen. Häufig wurde dieser weitreichende Wandel in Richtung größerer Komplexität und funktionaler Differenzierung mit Varianten der Modernisierungstheorie beschrieben. Das Anliegen, den Aufstieg des »Westens« als Vorbild für eine »Modernisierung« anderer Regionen anzusehen, erwies sich aber als folgenreiche Perspektive und brachte grundlegende Kritik hervor. Modernisierungstheorien sind heute weitgehend diskreditiert, finden in der Praxis aber vielfältig Anwendung.
Seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise von 2008 ist der Kapitalismus wieder in aller Munde. In Krisenzeiten treten globale Abhängigkeiten deutlicher hervor, soziale Ungleichkeit wird als Problem erfahrbar. Leistung, Effizienz und Innovation, Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, dringen in alle Lebensbereiche vor. Auch für die Geschichtswissenschaft rücken grundlegende Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erneut in den Fokus.
»Gestorben wird immer« heißt es in der vielfach ausgezeichneten Fernsehserie »Six Feet Under« über ein Bestattungsunternehmen in Los Angeles, deren Folgen nie allein vom Sterben, sondern immer auch über die Trauer, den Verlust und die Bewältigungsstrategien der Lebenden erzählen. Auch Historiker und Kulturwissenschaftler haben die umfassende Bedeutung des Themas entdeckt. So wird intensiv über die Frage diskutiert, ob moderne Gesellschaften den Tod verdrängen oder sich vielmehr eine Enttabuisierung des Sterbens feststellen lässt.
Im Jahr 2013 feiert die Sozialdemokratie ihr 150-jähriges Bestehen als Partei. Der vorliegende Band blickt deshalb in europäisch vergleichender Perspektive auf die Geschichte der linken Parteien in Deutschland und Europa seit 1860 zurück.
Für die Spätphase der ›alten‹ Bundesrepublik, die 1980er Jahre, existieren verschiedene Umschreibungen: »Abschied vom Provisorium«, »Risikogesellschaft«, andere diagnostizierten sogar den Beginn der »Postmoderne«. Auf jeden Fall handelte es sich um eine Phase des beschleunigten politischen, sozioökonomischen und kulturellen Wandels. Etablierte Normen und Deutungsmuster wurden infrage gestellt.
Traditionelle Formen von Religion, Religiosität und kirchlichen Bindungen haben in Europa nach 1945 an Bedeutung verloren. Dieses vielfach als Säkularisierung beschriebene Phänomen bildet den Ausgangspunkt für den aktuellen Band des Archivs für Sozialgeschichte. Vergleiche mit zeitgleichen, aber teils gegenläufigen Entwicklungen in den USA, Lateinamerika, Afrika und Asien sowie mit deren Rückwirkungen auf Europa geben Aufschluss über die allgemein-kulturelle Bedingtheit von Religiosität und schärfen den Blick für ihre jeweilige gesellschaftliche Relevanz. Dabei wird deutlich, dass Religion und kirchliche Bindungen trotz tief greifender Säkularisierungsprozesse wirkungsmächtige Faktoren blieben. Angebracht ist daher keine Geschichte des Niedergangs, sondern der Anpassung und Transformation. Die Neuformierung des Religiösen zeigte sich unter anderem im Evangelikalismus, der Befreiungstheologie und im politischen Islam.
Die Geschichte sozialer Ungleichheit gehörte einmal zu den Antriebskräften einer »kritischen« Sozialgeschichte mit umfassendem theoretischem Anspruch, geriet jedoch mit der Sinnkrise der Historischen Sozialwissenschaft aus dem Blick der Forschung. Während innerhalb der Soziologie weiterhin über »Klasse und Schicht«, über Lagen, Milieus und Lebensstile gestritten wurde, haben sich Historikerinnen und Historiker an diesen gegenwartsbezogenen Debatten immer seltener beteiligt.
Im 20. Jahrhundert haben wissenschaftliche Erkenntnisse auf alle Dimensionen von Politik eingewirkt und sie im Wechselspiel mit den Medien verändert. Vor allem nach 1945 etablierten sich Wissenschaftsdisziplinen mit Experten, die ihre Kenntnisse in den gesellschaftlichen Alltag hineintrugen und diesen umformten. Die Sozialwissenschaften avancierten international zu einer Leitwissenschaft für staatliche Institutionen, Parteien und Interessenverbände. Gleichzeitig war eine Politisierung von Wissenschaft zu beobachten.