Das Archiv für Sozialgeschichte
erscheint jährlich und kann im Abonnement bezogen werden.
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Moderne Demokratien streben die Herrschaft »des Volkes« durch politische und soziale Teilhabe an. Gleichzeitig wird die alltägliche Machtausübung an Parteien und einzelne Personen delegiert, die den Volkswillen repräsentativ vertreten sollen. Ihren Einfluss machen die Vielen vor allem bei der Wahl ihrer Vertretungen und bei Abstimmungen oder Referenden über einzelne Sachfragen geltend. Dazu artikulieren Interessengruppen, Protestbewegungen, Expert:innen und Einzelne ihre Anliegen durch nichtrepräsentative Praktiken der Partizipation.
Menschen waren zu allen historischen Zeiten mobil, ob aus eigenem Antrieb oder aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Notlagen. Migrationsbewegungen verknüpfen entlegene Regionen durch Reiserouten und Kommunikationsnetze, sie prägen Bahnhöfe, (Flug-)Häfen und ganze Stadtviertel als Räume des Ankommens und Zusammenlebens. Nationalstaaten sind zwar bemüht, Migration zu steuern, sie können die eigensinnige Suche nach neuen Lebensmittelpunkten und Erwerbsquellen aber nicht in Gänze kontrollieren.
In aktuellen Diskussionen wird Rechtsextremismus häufig als etwas außerhalb der Gesellschaft Stehendes verstanden. Dagegen zeigen Stimmgewinne rechtsextremer, nationalistischer Parteien in Deutschland und Europa ein anderes Bild. Diese Bewegungen lediglich als »Betriebsunfälle« zu interpretieren, verkennt die historischen Kontinuitäten in rechtsextremen Milieus ebenso wie soziale Brüche und ideologische Neuausrichtungen.
»Bildung« ist ein zentraler und schillernder Begriff der Gegenwart. Mit ihr werden hohe Ziele von gesellschaftlicher Emanzipation verknüpft und sie soll entscheidend dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu beseitigen. Zugleich stellt sie eine wichtige ökonomische Ressource dar und schafft selbst soziale Unterschiede zwischen »Gebildeten« und »Bildungsfernen«. Bildung kann als Motor individueller Befreiung und Erfüllung erfahren, aber als stetige Aufforderung zum »lebenslangen Lernen« auch mit Auslese, Leistungsdruck und Situationen des Scheiterns in Verbindung gebracht werden.
Als Profiteure der Globalisierung sind Eliten in Verruf geraten. Die Machthabenden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und die »Superreichen« werden als abgehobene Akteure wahrgenommen, die den Kontakt zur Bevölkerung verloren hätten. In der Geschichte hatten sie aber lange auch ein positives Image. Ihnen wurden unverzichtbare Qualifikationen, Fähigkeiten zur Führung und ein hohes Leistungsvermögen zugeschrieben.
Nicht erst seit der Corona-Krise ist Solidarität in aller Munde. Mit dem Begriff werden geteilte Werte und Interessen, die Unterstützung von Anderen und soziale Forderungen zum Ausdruck gebracht. Solidarität wird mit Gegenseitigkeit und Zusammenhalt, Loyalität und Selbstlosigkeit verbunden. Ihre Gültigkeit ist jedoch von Aushandlungen und Konflikten darüber verbunden, wer in das solidarische Handeln einbezogen wird und welche Personen ausgeschlossen bleiben. In der Geschichte von Arbeitskämpfen und Protestbewegungen, bei den Sozialversicherungen, in interna-tionalen Kampagnen oder gemeinschaftlichen Projekten wird Solidarität erlebt und eingefordert, aber auch unsolidarisches Verhalten angeprangert.
»Lokomotiven der Geschichte« hat sie Karl Marx genannt: Revolutionen beflügeln Phantasien, den Traum von einer »besseren Welt«, die Hoffnung auf ein anderes Morgen. Was aber sind Revolutionen aus sozialgeschichtlicher Perspektive? Sind sie immer gewaltsam und ungeplant? Können sie trotzdem ein »Mehr« an Freiheit oder »Emanzipation« bewirken? Gibt es revolutionäre Verlaufsmuster, prägende Akteure, dominante Erzählungen, Mythen und Inszenierungen? Hat der Begriff angesichts einer inflationären Verwendung in der Populärkultur überhaupt analytische Qualität? Diese und weitere Fragen rückt das Archiv für Sozialgeschichte in diesem Jahr ins Zentrum.
Wir erleben aktuell in Westeuropa eine nachlassende Akzeptanz parlamentarisch-demokratischer Systeme. Rechtspopulistische Parteien und Positionen erweisen sich als eine große Herausforderung. Diese Situation legt eine historische Reflexion über das Entstehen, Gelingen und Scheitern politischer Partizipation nahe. Um zu verstehen, wie sich der lange Übergang von der ständischen Repräsentation in der Vormoderne zu den inklusiven Verfassungsordnungen der Gegenwart vollzog, greift eine bloße Analyse der formalen Abläufe demokratischer Politik zu kurz. Schließlich waren Definitionen und Bewertungen von demokratischen Praktiken stets umkämpft und wandelten sich insbesondere in Umbruchsphasen und Krisensituationen oft grundlegend.
Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten zwei Jahrhunderte sind nicht zu übersehen. Häufig wurde dieser weitreichende Wandel in Richtung größerer Komplexität und funktionaler Differenzierung mit Varianten der Modernisierungstheorie beschrieben. Das Anliegen, den Aufstieg des »Westens« als Vorbild für eine »Modernisierung« anderer Regionen anzusehen, erwies sich aber als folgenreiche Perspektive und brachte grundlegende Kritik hervor. Modernisierungstheorien sind heute weitgehend diskreditiert, finden in der Praxis aber vielfältig Anwendung.
Seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise von 2008 ist der Kapitalismus wieder in aller Munde. In Krisenzeiten treten globale Abhängigkeiten deutlicher hervor, soziale Ungleichkeit wird als Problem erfahrbar. Leistung, Effizienz und Innovation, Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, dringen in alle Lebensbereiche vor. Auch für die Geschichtswissenschaft rücken grundlegende Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erneut in den Fokus.
»Gestorben wird immer« heißt es in der vielfach ausgezeichneten Fernsehserie »Six Feet Under« über ein Bestattungsunternehmen in Los Angeles, deren Folgen nie allein vom Sterben, sondern immer auch über die Trauer, den Verlust und die Bewältigungsstrategien der Lebenden erzählen. Auch Historiker und Kulturwissenschaftler haben die umfassende Bedeutung des Themas entdeckt. So wird intensiv über die Frage diskutiert, ob moderne Gesellschaften den Tod verdrängen oder sich vielmehr eine Enttabuisierung des Sterbens feststellen lässt.
Band 49 des Archivs für Sozialgeschichte befasst sich mit der europäischen Geschichte seit 1945. Die internationalen Beiträge beleuchten ganz unterschiedliche Aspekte des boomenden Forschungsfelds. Sie beschäftigen sich mit der politischen Geschichte der Europäischen Integration, greifen neuere Konzepte wie Europäisierung und transnationale Ansätze auf, um zu alternativen Sichtweisen auf die europäischen Gesellschaften nach Kriegsende zu gelangen. Dabei geraten gesellschaftliche Prozesse in den Blick, die in der Zeitgeschichtsforschung bislang zu wenig ereignishistorisch betrachtet wurden, so Migration und Rassismus, Konsumgeschichte oder Massentourismus. Auch zur Agrarpolitik, zu den Gewerkschaften oder der Friedensbewegung bietet der Band neue Perspektiven.
Band 48 des Archivs für Sozialgeschichte beschäftigt sich mit Emanzipationsprozessen in den »neuen Staaten« in Asien und Afrika und der Verflechtung mit ehemaligen Kolonialreichen. Auf diesem Wege wird das nation building untersucht, ferner werden Formen (post-)kolonialer Gewalt sowie die Rolle internationaler Organisationen (z. B. Vereinte Nationen) in den Blick genommen. Außerdem geht es um die Frage, wie sich die Dekolonisation auf die Kolonialmächte auswirkte und welche Rolle sie für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft sowie der Neuen Linken spielte.
Band 46 des Archivs für Sozialgeschichte ist dem Rahmenthema »Integration und Fragmentierung in der europäischen Stadt« gewidmet. Der Band lebt von der Spannung zwischen geglückter Integration, wie sie z.B. bei den Polen im Ruhrgebiet erreicht wurde und den neuen Konfliktlagen, die in den letzten Jahrzehnten mit den städtischen Problemzonen, Slums, Parallelgesellschaften und Luxussanierungen entstanden. Grundlegende Forschungsberichte zur autonomen Jugendkultur der französischen Banlieues, zur Geschichte des Rassismus und des amerikanischen melting pot runden den Band ab.