10 Ist die Protestbewegung eine »feministische Revolution«, wie es in Deutschland oft heißt? Alle Frauen verneinen meine Frage. Dies sei keine vollständige Be- schreibung. »Hier ist der Begriff ›Feminismus‹ den meisten nahezu unbe- kannt«, erklärt Atena Daemi. Sicher, Frauen seien ganz vorne dabei. Aber unter dem Schirm von Mahsa Jina Amini erfasse der Protest etwas Größeres – eine ganze Nation, all das Unrecht, das ihr seit 44 Jahren angetan werde. So, wie die Lehrervereinigung, die Rentnerunion, die Arbeiter der Petrochemie und die Ge- schäftsbesitzer in ihren Streikaufrufen hinter den Frauen standen, unterstütz- ten sie genauso auch die Minderheiten im Land. »Der neue Kaveh ist eine Frau«, schrieb der Fußballer Ali Karimi, einer der pro- minenten Protestunterstützer. In der altiranischen Mythologie des Königsbuchs von Firdausi ist Kaveh, der Schmied, ein einfacher Mann aus dem Volk, der ge- gen den fremden Eindringling und Tyrannen Zahak kämpft. Die Heldensage über den Widerstand gegen nicht-iranische Invasoren ist ein zentrales Motiv der Demonstranten. Es geht ihnen um ihre iranische Identität, die das Regime auslöschen will. So erklärt sich das Tattoo auf dem Arm des hingerichteten Demonstranten Ma- jid Reza Rahnavard: ein Löwe im Zeichen der Sonne. Das im Land sehr beliebte astrologische Symbol war seit Jahrhunderten, bis 1979, Emblem der National- flagge, stellvertretend unter anderem für schiitische, babylonische, zoroastri- sche (auf sehr alten indoiranischen Traditionen fußende Religion) Elemente der Geschichte. Ein grundlegender Wandel hat stattgefunden So erklären sich auch die vielen jungen Frauen, die sich mit wehenden Haaren vor dem Grab des Achämenidenkönigs Kyros dem Großen fotografieren lassen und ihr Bild in soziale Medien stellen: ein Protestakt vor einem imperialen Herrscher, der für Menschenrechte und Toleranz bekannt war – eine Art persi- scher Urvater. »Wir beginnen, tief eingepflanz- te Glaubensmuster aufzuarbei- ten.« Nicht nur, dass eine Provinz wie Sistan-Balutschistan, die niemals bei den Pro- testen des übrigen Landes mitmarschierte, nun ein Epizentrum des wöchentli- chen Widerstands ist. Kommen Iraner aus anderen Landesteilen dorthin, loben sie unentwegt den Mut der Demonstranten, erzählt mir die Journalistin Sahra Rous- ta, die in Zahedan lebt. »Die gan- ze Gesellschaft – alle Schichten, Gruppen, politischen Richtungen, Religiöse wie Nicht-Religiöse, wollen die Islamische Republik beendet sehen. Und: Es zeich- net sich eine kulturelle Revolution ab. Gegen Misogynie, gegen patriarchalische Vorstellungen. Wir beginnen, tief eingepflanzte Glaubensmuster aufzuarbei- ten«, fasst Atena Daemi die Entwicklung zusammen. Ihren Aktivismus bezahlt sie teuer: Kaum aus dem Gefängnis entlassen ist sie untergetaucht, um weiter zu publizieren. Ihre chronische Krankheit, die sich im Gefängnis entwickelte, kann sie in ihrem Versteck nicht behandeln. Wie alle be- fragten Frauen ist sie überzeugt: Die Proteste werden weitergehen, in der einen